Das Beispiel selbst
Entre nous, Stefan Keller!
Stefan, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
In Zürich, im Jura, im Kopf.
Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Es geht in «Bildlegenden. 66 wahre Geschichten» um Bilder und ums Erinnern. Ich ziehe alte Fotografien aus alten Alben oder aus Archiven, ersteigere sie im Internet und erzähle ihre Geschichte. Manchmal erzähle ich die abgebildete Geschichte, manchmal die Geschichte des Bildes. Manchmal beides. Und zwar sind es «wahre» Geschichten, sie sind recherchiert, nicht erfunden, soweit ich das beurteilen kann.
In dem Buch gibt es grosse und kleine Geschichten, die kleinen sind stärker politisch, erzählen aus der Welt der organisierten Arbeiterschaft und der Arbeiterkultur im vergangenen Jahrhundert. Die grossen Geschichten erzählen öfter vom Land, von den eigenen Vorfahren, von Stickern und Bäuerinnen, Knechten und Mägden.
Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Je älter ich werde, desto mehr gefällt mir die Form der Anekdote. Akademische Historiker verachten sie. Eine gute Anekdote ist ein kleiner Lichtstrahl, der die ganze Welt beleuchtet. Mich interessiert auch zunehmend das Beispiel selbst und weniger das System, für welches ein Beispiel steht. Starrt man ein alltägliches Phänomen lange genug an, zeigt es irgendwann Weltgeschichte, aber das ist schon fast eine Nebenerscheinung. Wichtig ist die gute, die «wahre» Geschichte. Sie muss Widersprüche enthalten.
Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Widersprüche haben mich immer fasziniert. Inhaltlich interessierte ich mich früher stärker für politische Skandale. Heute interessiere ich mich mehr als früher für Banalitäten. Eben für den kleinen Alltag, seine Sensationen und Nöte. Ich komme aus einer Familie, die sehr stationär lebte und sich in fünfhundert Jahren nur etwa zwei Kilometer vom einen kleinen Dorf in ein anderes kleines Dorf verschob. Ich bin in jener Gegend aufgewachsen. Als ich mit etwa dreissig Jahren einmal auf den Gemeindefriedhof ging, kannte ich alle Leute, die dort lagen, und von den meisten kannte ich auch eine Geschichte. Heute sieht die Gegend ganz anders aus, viel wurde gebaut. Ich kenne fast niemanden mehr. Aber an die Geschichten erinnere ich mich immer noch.
Irgendwann habe ich jenes Milieu dann verlassen und mir ein neues gesucht: Ich war mit alten Sozialisten eng befreundet, die sich zum Beispiel an den Generalstreik 1918 erinnerten, mit Kommunisten, die den Fall von Paris 1940 erlebten, mit jüdischen Emigrantinnen, die illegal in die Schweiz gekommen waren – auch von ihnen hörte ich ständig Geschichten. Ich werde nicht alt genug, um mich an alle zu erinnern und sie zu erzählen. Die Bilder sind dabei eine Hilfe.
Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Ich habe das Buch nicht am Stück geschrieben, sondern als Serie für Zeitschriften, wie übrigens fast alle meiner Bücher, immer mit einem Redaktionsschluss vor Augen. Weil die Geschichten diesmal nichts beweisen mussten, keinen Skandal aufdeckten, war es sehr schön, sie zu schreiben. Die Hauptarbeit war aber das Kürzen, denn keine der grossen Geschichten durfte länger als 2000 Zeichen sein. Bei den kleinen war der Umfang auf 400 Zeichen beschränkt. Durch das radikale Kürzen und Weglassen sind die Geschichten jedes Mal ganz anders geworden als geplant.
Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Entweder funkt es bei den Leserinnen und Lesern, und sie haben ein Vergnügen daran, in diese Erinnerungswelt einzutauchen, oder es funkt nicht. Das Buch ist ja ganz neu, bisher höre ich sehr positive Stimmen.
Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Bestimmt das leichteste, unbeschwerteste Buch, das ich bisher geschrieben habe. Im Tonfall oft ironisch, was die früheren Bücher nicht so waren. Wie gesagt, keine grosse Skandalgeschichte, sondern eine Serie von anekdotischen Exkursionen in den historischen Alltag. Aber auch nicht harmlos oder nostalgisch, es werden darin Leute halbtot geprügelt, in den Weltkrieg geschickt und erschossen.
Manchmal knüpfe ich auch an meine vier weiteren Bücher an und erzähle eine Episode, die dort schon vorkam, oder hätte vorkommen können, auf neue Art weiter. Mein Verleger meinte allerdings, man müsse auch ein Porträtfoto des Autors abdrucken, damit die Leute sicher sein können, dass das Buch von mir stammt.
Stefan Keller, «Bildlegenden. 66 wahre Geschichten»,
Rotpunktverlag, Zürich 2016, geb., 144 Seiten, 67 Abbildungen.