Verwechslungstragödie
Zu Pamuks «Diese Fremdheit in mir»
Ein Buch so lang, wie man sich den Sommer wünscht. Diesmal geht es
Orhan Pamuk um die einfachen Leute, deren Beobachtungen und
Empfindungen er in so wundervollen poetischen Bildern festhält, dass man die Welt der Istanbuler Bourgeoisie aus den früheren Büchern des Nobelpreisträgers nicht über die Massen vermisst.
Wiederum aber ist die Kulisse Istanbul, in den Sechzigerjahren: Der Strassenverkäufer Mevlut verliebt sich auf einer Hochzeit in die jüngere Schwester der Braut. Sie heisst angeblich Rayiha. Drei Jahre lang schreibt ihr Mevlut Liebesbriefe und überzeugt sie endlich, sich von ihm entführen zu lassen. In der Nacht holt er sie ab, und sie laufen blind drauflos: «Bäume tauchten gleich Betonwänden vor ihnen auf und verschwanden wieder, doch wie im Traum stiessen sie an keinen einzigen.»
Die Flucht gelingt; nur handelt es sich um eine schicksalhafte
Verwechslung: Rayiha ist nicht die Schöne, in die sich Mevlut verliebt
hatte, sondern deren ältere Schwester.
Orient, Schicksal, ein Leben, das in Anstand geführt werden will, während man doch getrieben ist von Sehnsüchten. Und ein Istanbul, das mit seiner tumultartigen Geschichte die vielen Figuren dieser Familiensaga prägt.
Der unaufgeregte Ton Pamuks täuscht darüber hinweg, dass seine
Literatur voller Lockrufe und Cliffhanger ist. Doch wie für den
Romanhelden Mevlut lohnt es sich auch für die Leserinnen und Leser ungemein, den erzählerischen Verführungen Pamuks nicht zu widerstehen.
Dana Grigorcea
Orhan Pamuk, «Diese Fremdheit in mir», Roman, aus dem Türkischen
von Gerhard Meier, Carl Hanser Verlag, München 2016, 592 Seiten.