Unzählige Crèmeschnitten
Entre nous, Simone Meier!
Simone, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
«Kuss» habe ich am gleichen Schreibtisch wie mein letztes und vorletztes geschrieben. Und dies ist die Geschichte meines Schreibtischs, ich hab‘ sie vor kurzem aufgeschrieben:
Mein Schreibtisch ist uralt. Er stand bis Ende der 1980er-Jahre in einer Kneipe, in der das Bier einer ganz bestimmten Brauerei getrunken wurde, für die wiederum ein mittels Heirat aus Bayern importierter Onkel arbeitete. Als die Kneipe Konkurs ging, sorgte dieser Onkel dafür, dass der Tisch seinen Weg in den Keller meiner Eltern fand. Wo er stand, bis ich in meine erste WG zog und dringend einen Schreibtisch brauchte.
Mein Vater und ich schliffen und lackierten, es war keine besonders komplizierte Arbeit, das massive Nussbaumholz war nicht allzu heikel, und wir machten sowas auch nicht zum ersten Mal. In meiner Erinnerung stand der Platz vor unserem Haus in jedem Sommer voller Schränke, kaputter Tische, Kommoden oder Stühle, die abgelaugt, abgeschliffen und mit neuen Schichten von Grundierungen, Beizen oder Seidenglanzlack überzogen werden mussten.
Seit bald dreissig Jahren sitze und schreibe ich also an dem Tisch, die diversen Laptops, die er schon aushalten musste, haben eine Spur winziger Kratzer im Lack hinterlassen, seine Gusseisenfüsse haben sich dafür an den verschiedenen Parkettböden gerächt. Wenn das Licht der Lampe auf ihn fällt, ist er golden, und nur Weniges fühlt sich so angenehm an, wie seine seidenglanzlackierte Fläche.
Ich wüsste gern, wie viele Menschen vor mir daran Platz genommen haben und was ihnen vorgesetzt wurde. Millionen von Tellern mit Kartoffeln und Fleisch wahrscheinlich, Bierkrüge, Cola-Flaschen. Zum Dessert gab es gewiss unzählige Crèmeschnitten, Coupes Dänemark und Banana Splits. Ab und zu streifte jemand den Dreck seiner Schuhe am Gusseisen ab. Verliebte küssten und Betrunkene prügelten sich. Jetzt ist der Tisch allein mit mir. Und auch wenn ich unentwegt Geschichten schreibe, dürfte er sich doch in seiner ganzen Existenz noch nie so sehr gelangweilt haben.
Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Um die Unvernunft der Träume. Um die Verwandtschaft von Liebe und Literatur. Weil wir im Moment, da wir uns verlieben und den andern Menschen, mit dem wir plötzlich leben und sterben wollen, noch gar nicht richtig kennen, in unserem Kopf und unserem Körper tausend Romane über ihn zu schreiben beginnen.
Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Das Verschwimmen von Wahn und Wirklichkeit. Das Erfinden paralleler Realitäten und Identitäten. Und wie sich daraus nicht nur eine Erzählung, sondern auch ein literarisches Verfahren gewinnen lässt.
Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Ganz neu sind sie nicht, aber zum Leitmotiv sind sie erst jetzt geworden.
Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Ach, wie auf eine sehr aufregende, beglückende, stürmische, überwältigende Affäre. Gelegentlich etwas allzu melodramatisch, oft aber auch einfach sehr angenehm und unterhaltsam.
Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Nein. Die Rezeption macht eh, was sie will.
Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Es ist mein jüngstes, liebstes und bestes. Was für das nächste wiederum genau so gelten wird.
Simone Meier, «Kuss», Roman,
Kein & Aber, Zürich 2019, geb., 256 Seiten.