Die Atemzüge der Spielerin

Entre nous, Jeannette Hunziker!

Jeannette, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Mehrheitlich in einem Zimmer meiner Wohnung in Bern, bei weit offenen Fenstern. Aber auch im Kopf auf Waldspaziergängen, beim Schwimmen und im Schnee.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Um Familie und Geheimnisse. Darum, was eine Geschichte ist, wem sie gehört, und wer sie erzählen darf. Um Einsamkeit und Fremdsein. Um Abhängigkeit und Sucht. Um das, was man weitergibt, und um das, was man für sich behält. Die Erzählerin im Buch nimmt den Tod des Vaters zum Anlass, sich selbst und ihr bisheriges Leben zu betrachten. Sie sucht in der Abhängigkeit ihres Vaters nach den Ursprüngen ihrer eigenen Sucht, obwohl und gerade, weil dieser Vater nicht ihr biologischer Vater ist. Ein Vorhaben, das niemals gelingen kann, aber das macht im Grunde nichts. Es geht um Reisen, innere und äussere, um den Ablauf von Zeit, die Zeit eines Lebens, die Zeit eines Jahres (wie im Bauernkalender ihrer Grosseltern).
Und es geht um die Liebe, in der wir, wie es im Buch heisst, «allein sind, wenn sie gut ist».

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Die Frage, was wahr ist, und wie man es sagen kann. Die Liebe und der Tod. Formal interessieren mich Listen und Lücken, was diese mit der Sprache machen. Regelwerke, wie sie auch im Buch vorkommen. Beispielsweise der Pschyrembel, der Krankheiten klassifiziert oder eben das Inventar, das die Hinterlassenschaften einer Person aufnimmt, mit dem Anspruch, eine Gesamtheit zu erzeugen, die aber niemals erreicht werden kann. Das Thema der Aufzeichnung, der Confession. Ich frage mich beim Schreiben immer, wie porös ich als Autorin bleiben kann, ohne dass das Gewebe des Textes beliebig wird. Ich will anwesend sein, aber nicht geschwätzig oder skandalös. Ich versuche, das, was ich wahrnehme und wie ich es wahrnehme, zu verdichten und es gleichzeitig offenzulassen, damit eine Erfahrung geschehen kann beim Lesen, die hoffentlich unabhängig ist von mir.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Leitmotiv. Ich würde sogar sagen, es ist ähnlich wie bei der Musik. Aus der Porosität konstruiert sich die strukturelle Beschaffenheit meines Schreibens. Das Tasten, der Rhythmus. Ich schreibe sehr stark nach Gehör. Wäre ich Pianistin, wären meine liebsten Aufnahmen diejenigen, bei denen das Keuchen der Tastenschläge beim Zurückschnellen, das Knarzen des Stuhls, die Atemzüge der Spielerin, das Schleifen der Filztasten über die Saiten, ebenso zu hören sind wie die Partitur. Die Pausen sind Teil des Textes. Es gibt keine herrschende Hierarchie zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was im Verborgenen bleibt und abbricht. Somit ist die Form des Textes sehr stark ein Spiegelbild des Inhalts dieses Buchs.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Zärtlich. Mit Befremden und Ohnmacht auch. Mit der Frage, ob es mir gelungen ist. Ich hoffe es, und ich hoffe nicht. Denn ich will ja weiterschreiben.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Ich wünsche mir, dass das Buch seine Leser_innen erreicht. Manche werden von seinem Inhalt angezogen sein und andere von seiner Form. Beides ist Teil der Erfahrung des Buchs.

Wie würdest Du es einordnen in die Folge Deiner Texte?
Es ist mein erstes Buch. Und ich werde es nie wieder so schreiben können, wie ich es geschrieben habe. Das ist schade und auch sehr schön, beides.


Jeannette Hunziker, »Für immer alles«,
Roman, Lenos Verlag, Basel 2024, geb., 213 S.

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