Vorsichtige Diagnose

Entre nous, Ruth Loosli!

Ruth, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Bis ich wusste, dass aus meinen Notizen und Gedanken ein Buch wird: vor allem nachts zuhause, wenn mich die Thematik nicht ruhen liess. Dann formte sich die Entscheidung, ein Buch daraus zu machen, der erste Satz, wie er heute im Buch steht, entstand im Val Mustair, im Haus Parli, im Zimmer mit dem wunderschönen Kachelofen. Vor diesem ersten Satz war ich das Tobel hinunter und wieder hinaufgelaufen (erste Szene im Buch). Ein Jahr später schickte ich die ersten 50 Seiten an den neuen Caracol Verlag. Irène Bourquin und ich hatten schon in Winterthur im literarischen Bereich zusammengearbeitet. Ihr JA als Verlegerin kam am Morgen darauf, und ab da begann nochmals eine längere Phase der Überarbeitung. Ich bekam Rückfragen, die mich zwangen (im besten Sinn), alles genau anzuschauen, die Figuren zu überprüfen, ob die Details stimmen. Da dies nach den letzten Lyrikbänden mein erster Roman ist, war diese Zusammenarbeit äusserst wichtig und hilfreich für mich.
Ein essenzieller, wenn auch kurzer Abschnitt entstand im Literaturhaus in Lenzburg, unter der Leitung von Christine Lötscher im Genrelabor, dies in Zusammenarbeit mit der Uni Zürich. Später, im Januar 2021, durfte ich im Kloster Dornach ein Zimmer als «Artist in Residence» in Anspruch nehmen, und dort entstand der Schluss des Buches. Um ihn habe ich gerungen. Doch nun liegt er so leicht und selbstverständlich im Buch, dass es eine Freude ist.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Im Buch geht es um die Stimmen der Tochter-Figur Moja.
Die Mutter, Paula, die die seltsame Veränderung ihrer Tochter alarmiert beobachtet, beginnt zu recherchieren, nachdem eine vorsichtige Diagnose gestellt worden war. Schizophrenie. Das ist ein Wort, das die Gedankengänge gehörig stört. Auch diejenigen einer ganzen (globalen) Gesellschaft. Dennoch ist eine Zunahme psychischer Störungen allgegenwärtig. Man liest und hört in Reportagen davon, im Fernsehen entstehen Dokumentarsendungen, es gibt Diskussionen in Fachkreisen. Im Besonderen auch im Gebiet der Neurologie entstehen neue Studien. Dahinter stehen aber immer Einzelschicksale, das sollte man nicht vergessen.

Es geht mir aber ganz grundsätzlich um die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein. Auch die Mutter der erkrankten Moja ist eine Forscherin in dieser Richtung. Was ist krank, was ist gesund? Gibt es eine göttliche Führung? Eine Vorsehung? Paula fühlt sich aus der Bahn geworfen, nachdem sie akzeptieren musste, dass Moja ihr Leben nicht mehr selbständig bewältigen kann.
Wo ist nun ihr kindlicher Glaube an einen hilfreichen Gott geblieben?
Es geht also auch um theologische und philosophische Fragen, die mich als Autorin schon seit langem begleiten.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Wieder: Das menschliche Bewusstsein. Die menschliche Spezies steht ja bekanntermassen an einem Abgrund. In verschiedener Hinsicht. Trotzdem bin ich nicht per se pessimistisch. Doch neue Lösungen wird es nur in einer neu und weiter entwickelten Kultur des Miteinander geben (ich weiss, man sieht gerade noch wenig davon, aber lassen wir uns überraschen).
Philosophie wie Religion versuchen Fragen zu beantworten. Inwiefern gelingt es ihnen oder gelingt es gerade nicht? Wo müssen wir neue Ansätze aus einer grösseren Perspektive heraus verfolgen? Eine universelle Spiritualität interessiert mich (die eigene kulturelle Herkunft integrierend).

Gesellschaftliche Bewegungen. Weshalb ist es möglich, dass die Armut zunimmt, auch in unseren Breitengraden?
Bildung für alle.
Gerechtigkeit.
Die Lücke in all dem, was wir wahrnehmen und beatmen. Dieser Lücke Raum zu geben, ist der Antrieb und die fortwährende Inspiration in meinem Schreiben und Leben.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Diese Themen begleiten mich seit Kinder- und Jugendzeit. Im Besonderen, noch nicht explizit erwähnt, auch die Frauenfrage.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Mit grosser Empathie für die zwei Figuren.
Mit Stolz auch, dass sie so viel Freiheit für sich beansprucht haben während dem Schreiben.
Mit Freude, dass ich eine grössere Prosaarbeit sozusagen mit dem Ansatz eines Fanfarenstosses zu Ende gebracht habe.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Ich möchte mit diesem Buch mithelfen, einen Diskurs in den öffentlichen Räumen zu führen, die sich mit psychischer Gesundheit/Krankheit beschäftigen. Aber, und: Meine Sprache ist manchmal radikal knapp. Wie wird sie wahrgenommen im Dunstkreis der literarischen Urteile?

Wie würdest Du es einordnen in der Reihe Deiner Publikationen?
Ein besonderer Schritt in der Choreographie (GRAPHIE! es sind neue Schreibbilder entstanden, die dem Text zur Seite stehen) meiner literarischen Arbeit.


Ruth Loosli, «Mojas Stimmen», Roman,
Caracol Verlag, Warth 2021, brosch., 224 Seiten.

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