Frei sein
Entre nous, Hildegard E. Keller!
Hildegard, wo hast Du Dein Buch geschrieben?
Am Schreibtisch, in Zürich, Sant’Abbondio, Costa und Tegna, in Bloomington und New York, in Sitges, Rom, Berlin und Paris. Im Zug, im Zug und wieder im Zug, jedenfalls bis zu den ersten Märztagen 2020.
Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Der Roman «Was wir scheinen» geht mit einer älteren Dame auf Urlaubsreise. Sie will noch einmal in Ruhe das Leben Revue passieren lassen, in der Abgeschiedenheit eines Tessiner Dorfs. Es ist der Sommer 1975, und meine Hauptfigur ist Hannah Arendt. Sie denkt auch über das Buch nach, das sie fertigschreiben will, spricht mit den Rotkehlchen, schreibt und empfängt Briefe, unternimmt mit Hotelangestellten kleine Eskapaden und erzählt so persönlich von ihrem Leben, wie nie sonst.
Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Menschen. Unerschrockene, die ihr Leben durch und durch leben. Welche Entwicklungen sie in schicksalshaften Herausforderungen machen. Wie sie sich ihr Recht auf das eigene Leben, Denken, Fühlen und Handeln bewahren und zu welchem Preis. Was für ein fantastisches Experiment der freie Wille ist – unter bestimmten historischen Umständen noch mehr als sonst schon. In «Was wir scheinen» ist es Hannah Arendts Haltung in der gewaltigen Ablehnung, die ihr in der Eichmann-Kontroverse entgegenschlug.
Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Das ist ein Leitmotiv für meine Arbeit als Autorin. Auch in meinen Hörspielen, dem Radiofeature, den Performances und auch in meinem Dokumentarfilm geht es um Frauen, die ihr Leben unter allen Umständen in der Hand behielten, oft auf paradoxe, mystische Weise. Mittelalterliche Visionärinnen wie Hildegard von Bingen oder Hadewijch ebenso wie Alfonsina Storni und Etty Hillesum, also Frauen, die zwischen den Weltkriegen lebten und vehement auf ihrer Freiheit bestanden. All diese Frauen waren auch starke künstlerische Begabungen. Wie haben sie sich ihren Platz im Leben gegeben? Das ist eine wichtige Frage für uns alle.
Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Beim Schreiben erlebte ich immer wieder Lichtblicke. Da habe ich eine unerhörte Leichtigkeit empfunden, wie noch nie beim Schreiben. Dieses Glück machte die Knochenarbeit wett. Ich vergesse das Gefühl nie mehr.
Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Erwartungen habe ich zuerst an mich selbst. Dass ich etwas Neues erfahre, auch im Gespräch mit meinen Leserinnen und Lesern. Als ich meinen Dokumentarfilm an Festivals zeigte, erlebte ich, dass eine alte Frau, die «strong opinions» hat, durchaus polarisieren kann. Meinem Roman wünsche ich, dass seine Poesie angenommen wird, dass er Freunde findet, denen er Freude macht. Dass er als Roman, als Kunstwerk, angenommen wird. Dass ich bald Lesungen machen darf.
Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Trotz starker biografischer Anklänge ist «Was wir scheinen» mein erster Roman und dadurch etwas völlig Neues.
Hildegard E. Keller, «Was wir scheinen», Roman,
Eichborn Verlag, Köln 2021, geb., 576 Seiten. Erscheint am 26. Februar 2021.