Ein Wort so angesegelt kam

Entre nous, Andreas Nentwich!

Andreas, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Die Rohfassung meines Londonjournals «Change Ringing» vor allem in dem Londoner Apartment, das ich zwischen Februar und August 2019 bewohnt habe. Aber manchmal hatte ich auch den Laptop dabei, besonders auf meinen Kurzreisen in Südengland. Da sass ich auf einer Bank vor Binsen am Fluss oder in der interessierten Nachbarschaft von Kühen. Und weil es ein Unterwegs-Buch ist, hatte ich sogar beim Joggen ein winziges Blöckchen und einen Bleistiftstummel in der Tasche, für den nicht seltenen Fall, dass da plötzlich ein Wort so angesegelt kam.

Worum geht es Deiner Meinung nach in Deinem Buch?
Einfache Antwort: um Beobachtungen in und um London. Unter Menschen, Tieren, in Pärken, Museen, Kirchen, Cafés, auf Friedhöfen, im Spital, in den Strassenschluchten, im Bus. Und manchmal laufe ich mir selbst über den Weg und beobachte dann mich. Komplizierte Antwort: Es geht in «Change Ringing» um alles und nichts, nämlich um jeden Augenblick, und was er heranspielt. Ich «kann» keine Fiktion, sondern erfinde, was ich sehe. Aber da ist mein Sprachehrgeiz gross. Ich will dem, was ist, in meiner Sprache sinnliche Evidenz erschaffen, die in den Köpfen meiner LeserInnen Bilder freisetzt (durchaus ihre eigenen Bilder). Und dies möglichst so, dass noch andere Geschichten durchscheinen. So etwa sind meine Architekturerzählungen Versuche, hinter das zu kommen, was man als englische Mentalität bezeichnen könnte.
Man nennt ja diese Art, die Oberfläche, vom Augenblickseindruck ausgehend, als Tiefe zu behandeln, kleine Prosa oder Flaneursliteratur. In dieser Tradition sehe ich mich, als Zaungast, der auf den Nebenwegen der Zeit unterwegs ist, wo man zum Beispiel zwei identische Hündchen sieht, die gemeinsam einen Stock apportieren. Das halte ich dann für die Ewigkeit fest. Aber auch ein dickes Mädchen, das halb im Scherz mit seiner Mutter rangelt, weil es nicht in die Schule will. Sofort ist klar: So geht das jeden Tag. Eine winzige Tanzszene, in der die ganze traurige Zukunft schon da ist.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Ich könnte eine halbe Seite füllen mit schrecklichen Wörtern. Sorge machen mir der allgemeine Rechtsruck, der Rassismus, Antisemitismus, die Nationalismen. Buchstabiert wird das alles jeden Tag bedenkenloser aus dem Wörterbuch des Unmenschen, auch in Kreisen des bürgerlichen Mittelstands, Stichwort, etwa, «Merkelhass» in Deutschland.
Aber ich bleibe beim literarischen Schreiben. Jetzt ist viel von Slowdown die Rede. Dafür bin ich sowieso immer. Aber die Restauration der alten Mythen vom einfachen Leben kann es ja eigentlich nicht sein. Nur was dann? Das ist das eine. Das andere: Mich interessieren Autorinnen und Autoren aus illiteraten Milieus, von Edouard Louis bis zu der wunderbaren Annie Ernaux. Mir scheint, sie bringen ein Sensorium mit, das den kulturellen Verwerfungen unserer Gesellschaften mehr gewachsen ist als der vernunftfromme Belehrungsfuror des kulturellen Establishments.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Na ja, ich frage mich, was da die Rolle des Zaungasts sein könnte. Ich denke, es könnte ein Slowdown besonderer Art sein, als Gegengift zu den Destruktivkräften des grassierenden Rechthabens und Bescheidwissens. Die Flaneursliteratur hatte ihren Höhepunkt in den 1920er Jahren, einer Zeit gewaltiger gesellschaftlicher Umbrüche und rasenden Wandels. Sie war langsam – meistens zu Fuss unterwegs – und schnell, weil sie den Augenblick festhielt. Hinschauen, Ambivalenzen in einer Satzbewegung aufheben, ohne sie immer lösen zu müssen, die Schönheit und die Traurigkeit der Heterogenität beschreiben. Das hält vielleicht auf bescheidene Weise die Menschlichkeit aufrecht.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Immer noch fassungslos. Nentwich im Glück. Ich habe Scheiben immer als schwere Übung empfunden, und dann sind in meiner Londoner Freiheit regelrecht die Dämme gebrochen. Das hatte ich noch nie zuvor erlebt, diese Vorfreude auf den Schreibtisch.

Hegst du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buches?
Ich wünsche mir, dass es nicht nur als schöngeistige Übung wahrgenommen wird. Krasseste Armut, ethnische Spannungen, kulturelle Ungleichzeitigen, die fehlende Solidarität der besitzenden Klassen, die Chancenlosigkeit der Unterschichtkinder – alles das ist drin.

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Es ist mein drittes, aber das erste im engeren Sinn literarische. Ich sag' es mal so: Während des Lockdowns habe ich unser Quartier als exotische Fremde entdeckt. Mehr als eine exotische Fremde und einen freien Kopf brauche ich eigentlich nicht für den richtigen Schreib-Schlendrian. Insofern hoffe ich, dass «Change Ringing» ein Anfang ist.


Andreas Nentwich, «Change Ringing. Ein Londonjournal».
RotpunktVerlag, Zürich 2020, geb., 208 Seiten.

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