Wahrnehmung anschirren
Entre nous, Hendrik Rost!
Hendrik, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Jeden Morgen und genauso jeden Nachmittag fahre ich gut 17 Kilometer ins Büro und wieder zurück nach Hause. Die Hyperaufmerksamkeit, die das Radfahren in Hamburg erfordert, und gleichzeitig die Einförmigkeit des Dahinrollens ergeben eine Bewusstseinshaltung, die auf eine intuitive Weise sehr kreativ ist. Ich habe das Buch, um es zusammenzufassen, in Gedanken aufgezeichnet, habe diesen Aufzeichnungsprozess beobachten können, die einzelnen Elemente der Texte daraus extrahiert und sie später zu den Gedichten zusammengefügt. So konnte ich feststellen, dass es möglich ist, anhand von Lektüre, einem über viele Jahre auf Gedichte eingestellten Mindset und einer körperlichen Betätigung, die den koordinierenden und abwägenden Teil der Wahrnehmung anschirrt, weitgehend unabhängig zu sein von festen Schreiborten und Schreibtischen oder gar von Zeiten, die für das Schreiben nötig sind. Das Einzige, was danach zu tun bleibt, ist die Notate beizeiten schriftlich festzuhalten.
Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Die Suche nach dem Neuen, Unerhörten kann durchaus auch an ungewöhnlicher Stelle überraschend erfolgreich sein, in einem Gedicht von Novalis etwa oder einem Langgedicht von Sebald, das vor allem durch den geschickten Umbruch überzeugt. Natürlich, wird man vielleicht denken, aber die Aufgabe, sich in der Gemengelage der unterschiedlichsten Stimmen trotzdem halbwegs bei Verstand oder sogar bereichert im Sinne von dankbar und mitfühlend bewegen zu können, ist keine immer ganz leichte – es geht in dem Buch also wie im Leben selbst darum, sich seiner, mitgegebenen und erworbenen, Instrumente zu vergewissern, sie anzuwenden, und zwar mit Leib und Seele, und die Elaborate schließlich anderen zur freien Verfügung, zum freien Verwerfen zu überlassen.
Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Grundsätzlich interessiert mich die Entdeckung der Welt über die Sprache. Das liegt in der Natur der Dinge, da ich drei Kinder habe. So konnte ich hautnah miterleben, wie Begriffe entdeckt und angewendet wurden. Ich ging kürzlich mit meinem sechsjährigen Sohn, der schwimmen lernt, ins Hallenbad. Wir gehen aus der Dusche ins Bad, und er sagt: «Hier öffnet sich die Tür zum Paradies.» Der nächste logische Schritt nach der Entdeckung dieser Welt ist es, sich in ihr zu bewegen. Also endlich schwimmen zu können und sich dann vom Medium tragen zu lassen. Navigierte man früher nach den Sternen, navigiere ich heute anhand von Gedichten, eigenen und vor allem anderen aus der Gegenwart und Tradition.
Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Diese Beschäftigung (mit der sprachlichen Neugier auf das Leben) ist prägend für mich von Beginn an. Die Fähigkeit, die Welt aus Lauten, die laute Welt zu identifizieren und sich mit Begriffen an den Erscheinungen zu reiben, aus Ding und (Sprach-)Patzer eine funktionierende Sprache zu entwickeln, die sich später im Gedicht einerseits dieser Evolution wieder bewusst wird und sich andererseits auch von der Effizienz der alltäglichen Sprache wieder befreit, diese Fähigkeit ist im Vergleich zu früher offenbar erweitert, denn ich schreibe mit größerer Lust neue Gedichte, als ich es je getan habe. Es liegt mir am Herzen, die Wahrnehmung und ihre Instrumente zu nutzen, aber die Objekte der Wahrnehmung dem Urteilsvermögen nicht schutzlos zu überlassen. Ganz im Gegenteil ist es so, dass Lektüre eine Möglichkeit ist, sich aus der Verstrickung der Vorurteile und Meinungen zu lösen, das zumindest zu wollen.
Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Mit dem freudigen Eindruck, etwas über einen bestimmten Zeitraum getan und in der Lektüre und beim Schreiben erlebt zu haben – etwas, das ich nicht nur nie wieder machen kann, weil es sich nicht repetieren lässt, sondern etwas, das ich auch nicht mehr machen muss, da sich jetzt dahinter ein neuer (Zeit- und Hall-)Raum geöffnet hat.
Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption?
Ich bin gespannt auf Reaktionen und wünsche mir, dass sie Aspekte betonen, die mir bisher verborgen geblieben sind. Das aktuelle Buch ist wie die vorherigen aus der Lektüre anderer Gedichte hervorgegangen – es ist nicht nur das Tuscheln der Phänomene, wenn das Licht ausgeht oder wir ihnen den Rücken kehren, es ist auch der Chor der Stimmen wie in Nils Holgersson, wo die Gänse im Zug einander zurufen: «Wo bist du? – Ich bin hier! – Wo bist du? – Ich bin hier!» So entsteht ein Werk als Reise, aber der unpersönliche oder überpersönliche Vogelzug als Ganzes mit seinem Netzwerk von «Wo?» und «Hier!» verortet letztlich wieder jeden der Korrespondierenden. Zwar helfen Biologismen auch nur bedingt weiter, aber es kann nützlich sein, sich, wie Nils, als Wicht in die Welt hinauszulesen und in Lebensgröße zurückzukehren.
Wie würdest Du Dein neues Buch einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Es ist das siebte – rückwärts blickend ist es das erste, ein verkehrtes Debüt. Und tatsächlich: Dahinter gibt es noch nichts Genaues, das kartographiert wäre. Es öffnet sich die Tür zum ...
Hendrik Rost, «Das Liebesleben der Stimmen», Gedichte,
Wallstein Verlag, Göttingen 2016, geb., 96 Seiten.